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Feuilleton aus der Arbeiterzeitung. Nr.22,24.1.1900
Am Scheideweg. Eine höchst märchenhafte
Geschichte.
Es war einmal eine stattliche junge und sehr tugendhafte
Kaufmannsfrau. Am Morgen, ehe ihr Gatte seinen Geschäften
nachging, saß sie schöngekleidet neben ihm am
Frühstückstisch, und er freute sich und dankte Gott,
der ihm eine so tugendhafte Hausfrau gab. Kehrte er Mittags heim,
so saßen um den Tisch drei kleine frische, pausbackige
Kinder. Denen legte die Mutter das Essen vor und klopfte sie auf
die Finger, wenn sie damit in die Sauce fuhren. Und der Kaufmann
ließ es sich wohlschmecken und freute sich wieder seiner
tugendhaften Gattin. Und Abends begleitete sie ihn auf einem
Spaziergang, und sie trug ein seidenes Kleid und einen Federhut,
und die Nachbarinnen blickten ihr neidisch nach. Sie schien es
aber nicht zu merken und grüßte alle freundlich. Da
freute sich der Gatte wieder, und wenn er Abends mit seiner
Gattin zur Ruhe gegangen war, da vergaß er niemals, Gott
für die Tugend seiner Gattin zu danken, und sie selbst that
ein Gleiches, und bald darauf schliefen beide den tiefen Schlaf
des Gerechten.
Einmal aber, da konnte die tugendhafte Frau nicht so schnell
einschlafen. Es war am Vorabend ihres Namenstages, sie hatte
innig zu ihrem Schutzpatron gebetet denn sie war auch eine sehr
fromme Frau, und nun mußte sie allerlei Gedanken
nachhängen, die ihr nicht alle Tage kamen. Wie
glücklich sie sich auch fühlte, und besonders
glücklich durch ihre eigene Tugend, es gab doch auch manches
Verdrießliche in ihrem Leben, und das rührte alles von
ihrem Dienstmädchen von der schwarzen Hanni, die sich
durchaus nicht ein Beispiel an ihrer Herrin nehmen und ebenfalls
auf dem Pfad der Tugend wandeln wollte. Denn während ihre
Herrin eine ehrbare Ehefrau war und ihrem Gatten drei muntere
Schreihälse geschenkt hatte, war die Hanni, es ist
schrecklich, nur daran zu denken, eine ledige Mutter und ihr
bleiches, kränkelndes Kind war bei fremden Leuten in Pflege.
Während die Herrin immer blitzblank und munter aussah, trug
die Hanni geflickte und verschossene Kleider, daß es eine
wahre Schande war, und hatte stets eine mürrische,
vergrämte Miene. Oft hatte sie die Hausfrau wegen beider
Fehler zur Rede gestellt, und die Hanni hatte sich damit
ausrzureden versucht, daß sie kein Geld auf neue Kleider
habe, weil sie für den Unterhalt des Kindes so viel zahlen
müsse, und daß sie nicht fröhlich dreinschauen
könne, weil ihr das Herz weh thue. Da hatte ihr dann die
tugendhafte Frau ihren lasterhaften Lebenswandel vorgehalten und
Besserung empfohlen, aber es blieb alles beim Alten. Während
die Kaufmannsfrau alle Hände voll damit zu thun hatte, die
Arbeit des Mädchens zu beaufsichtigen und sie zu
größerem Fleiß und strengerer Achtsamkeit zu
ermahnen, vernachlässigte die Hanni gar oft irgendeine ihrer
heiligen Pflichten. ließ die Suppe überkochen oder ein
Kind schreien, oder den Staub irgendwo liegen, und was noch mehr
derartige Unterlassungssünden sind.
Dies alles bedachte die schöne, tugendhafte Frau, als sie
am Vorabend ihres Namenstages im Bette lag und der Gatte neben
ihr behaglich schnarchte Und da konnte sie denn nicht umhin, in
aller Gottesfurcht doch ein wenig darüber zu staunen, wie
ungleichmäßig doch das höchste Gut, die Tugend,
unter die Menschen verteilt sei, und sie flehte innig zu ihrem
Schutzpatron, er möge doch der lasterhaften Hanni auch ein
wenig Tugend verleihen, ohne natürlich darum ihre eigene zu
verringern. Unter so erbaulichen Betrachtungen schlief sie
ein.
Im Traum sah sie mit einem Mal eine weite Landstraße vor
sich, die von einem schmäleren Wege gekreuzt wurde. Sie
stand aber nicht im Straßenstaub. sondern sie schwebte Ober
dem Kreuzweg, und sie bemerkte, daß sie unsichtbar sei.
Plötzlich kam ein Paar raschen Schrittes querfeldein
geschritten. Mit Staunen erkannte die Kaufmannsfrau ihren
Schutzpatron und an seiner Seite die Hanni. Wie mochte sie in so
gute Gesellschaft gekommen sein? An der Wegkreuzung blieben die
beiden stehen. "Deine Herrin". sagte der Schutzpatron, ,,hat mich
so beweglich angefleht, dir Tugend zu verleihen, daß es mir
zu Herzen ging. Zwar ist die Tugend in diesen schlechten Zeiten
etwas gar Rares geworden, und ich kann nicht dem Entbesten davon
geben, aber meinem frommen Pathenkind möchte ich doch gern
das zuliebe thun. Da habe ich nun unlängst in einem Buche
gelesen, das von den alten Heidengöttern handelt, und da kam
auch so ein Mensch zweifelhafter Herkunft vor, wie du vielleicht
auch einer bist. Er hieß Herakles. Der wurde auf einen
Scheideweg gestellt und hatte dort zwischen dem Pfad der Tugend
und dem des Lasters zu wählen. So viel kann ich auch
für dich thun. Du siehst, wir stehen hier an einer
Wegkreuzung. Rechts geht die breite Straße des Lasters,
links der schmale Tugendpfad. Du kannst wählen. Zuerst aber
sollst du erfahren, was auf beiden Wegen deiner harrt. Den Weg
des Lasters kennst du nur zu gut Nun aber will ich dir den Weg
der Tugend schildern. Zwar ganz unbekannt ist dir auch der nicht.
Siehst du doch täglich und stündlich deine Herrin auf
demselben wandeln. Betrittst du ihn, so wirst du statt eines so
ausgezeichneten Dienstplatzes, wie du ihn jetzt innehast, den
steten Ärger und die große Verantwortung eines eigenen
Heims wohl nicht vermeiden können. Statt von Morgen bis in
die Nacht unter freundlicher Aufsicht arbeiten zu dürfen,
wirst du selbst ein lasterhaftes Mädchen überwachen
müssen, "statt ein Kind der Sünde zur Welt zu bringen
und es fremden Leuten zu überlassen, wirst du Mann und
Kinder um dich haben und kurz die ganzen Lasten tragen
müssen, wie sie deine Herrin so mutig erträgt." Hanni
überlegte nicht lange. sondern wollte sich rasch
entscheiden, aber noch einmal warnte der väterliche
Schutzpatron: ,,Du weißt nicht, wie viel man sich mit den
Dienstboten ärgern mußt Bedenke es wohl!"
Aber viel Bedenken war nicht Hanni's Sache. Sie wendete sich
entschlossen ... Wohin? Ihr werdet es gewiß nicht erraten.
Dem Schutzpatron blieb vor Verwunderung der Mund offenstehen, und
die Kaufmannsfrau erwachte vor hellem Staunen, denn die einst so
lasterhafte Hanni wandelte entschlossen den Dornenpfad der
Tugend... Es war eben nur ein Traum
Therese Schlesinger
Aus: Jaindl, Birgit 1994; Therese Schlesinger (1863-1940) S.249
f., Diplomarbeit, Wien.
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